NSU-Komplex post verdictum: Keine Ruhe nach dem Urteil

Vortrag und Diskussion mit Friedrich Burschel (Radio Lotte Weimar, NSU-Watch, Rosa Luxemburg Stiftung Berlin)

Sonntag 18. 11. 2018

19:00 Uhr

Kino 8 1/2 (Nauwieser Straße 19, 66111 Saarbrücken)

Welche Kon­se­quen­zen sind aus dem frag­würdi­gen Urteil im NSU-Prozess zu ziehen und wie kann ver­hin­dert wer­den, dass staatlich­er­seits und von vie­len Medi­en ein Schlussstrich unter die Causa NSU gezo­gen wird? Ist der NSU jet­zt Geschichte, wie es der Berlin­er „Tagesspiegel“ am Tag nach der Urteilsverkün­dung in München staat­streudoof verkün­dete – aus­gerech­net im Inter­view mit dem Chef des Inlands­ge­heim­di­en­sts, Hans-Georg Maaßen? 

Mit Sicher­heit nicht: Der Tag der Urteilsverkün­dung am 11. Juli 2018 war der absolute Tief­punkt der 438 Prozesstage und ein erneuter Tief­schlag für die vom NSU-Ter­ror Betrof­fe­nen. Zwar wurde Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft bei „beson­der­er Schwere der Schuld“ verurteilt, die bei­den bis heute fanatisch beken­nen­den Neon­azis unter den Angeklagten im Prozess, Ralf Wohlleben und André Eminger, erhiel­ten gerin­gere als von der Bun­de­san­waltschaft (BAW) geforderte Frei­heitsstrafen. Ins­beson­dere Eminger wurde in etlichen Punk­ten mit haarsträuben­der Begrün­dung freige­sprochen. Er muss nur zweiein­halb Jahre ins Gefäng­nis. Dieses Straf­maß liegt fast zehn Jahre unter der Forderung der BAW und sorgte gemein­sam mit Emingers sofor­tiger Freilas­sung aus der U‑Haft bei den bei der Urteilsverkün­dung anwe­senden Neon­azis im Pub­likum für johlende Begeisterung.

Ein schwarz­er Tag für die Opfer des NSU, aber auch für den Kampf gegen den immer dreis­ter auftre­tenden Neon­azis­mus in Deutsch­land. Ralf Wohlleben, der eine Woche nach dem Urteil auf freien Fuß geset­zt wurde, wird derzeit zum Helden und Mär­tyr­er der Szene aufge­baut: Das nieder­schmetternde Sig­nal des Staatss­chutzse­n­ates des Ober­lan­des­gerichts München zeit­igt schon jet­zt ver­heerende Wirkung in ein­er Szene, die sich ger­ade erneut radikalisiert. Umso wichtiger ist es für eine antifaschis­tis­che Linke, an der Forderung „Kein Schlussstrich!“ festzuhal­ten und zu ver­hin­dern, dass die Causa NSU jet­zt staatlich­er­seits und von vie­len Medi­en als erfol­gre­ich aufgek­lärt abmod­eriert wird!

ALLE wesentlichen Fra­gen sind weit­er offen: Insti­tu­tioneller Ras­sis­mus? Ist bis heute ein Nis­chen­the­ma der Betrof­fe­nen. Ein Nazi-Net­zw­erk? Ein Hirnge­spinst. Ver­strick­ung des „Ver­fas­sungss­chutzes“? I wo. Für diejeni­gen von uns, die an ein­er offe­nen und plu­ralen Gesellschaft der Vie­len inter­essiert sind und an der Wahrung ein­er huma­nen Ori­en­tierung kann das Urteil und das Ende des Prozess­es nur ein Zwis­chen­stopp auf dem Weg zu lück­en­los­er Aufk­lärung und Aufar­beitung sein. Wir dür­fen es nicht hin­nehmen, dass jet­zt zur Tage­sor­d­nung überge­gan­gen wird und ein Schlussstrich unter den mon­strösen NSU-Kom­plex gezo­gen wird. Nach so langer Zeit und 70 Mil­lio­nen Euro später sind die wesentlichen und bohren­den Fra­gen dieses Kom­plex­es nach wie vor unbeant­wortet und offen, der Ver­fas­sungss­chutz geht aus diesem wohl größten Geheim­di­en­st­skan­dal der deutschen Nachkriegs­geschichte völ­lig ungeschoren her­vor, im Land explodiert ras­sis­tis­che und rechte Gewalt gegen Geflüchtete und ihre Unterstützer_innen, Dinge, die zu Beginn des Prozess­es und in ihm noch ein­deutig als Nazi-Sprech zu iden­ti­fizieren waren, sind in Reko­rdzeit wieder in aller Munde und jeglichen Tabus entk­lei­det und im Bun­destag het­zt täglich eine neue völkisch-nation­al­is­tis­che Partei mit weit­er erstark­enden  außer­par­la­men­tarischen Zweigen im organ­isierten Neo­faschis­mus. Das Ende des Prozess­es kann mithin nur der Beginn eines neuen Kampfes für Men­schlichkeit und Vielfalt sein und ein­er Renais­sance antifaschis­tis­chen Engagements.

Mit seinem Vor­trag will Fritz Burschel die Ein­schätzung von Prozess, Urteil, Unter­suchungsaauss­chüssen, Behör­den­ver­strick­ung, gesellschaftlichem Ras­sis­mus und der recht­ster­ror­is­tis­chen Gefahr vom Kopf auf die Füße stellen und die Frage nach antifaschis­tis­chen Kon­se­quen­zen aus dem Aufar­beitungs-Desaster und den Anforderun­gen der „Kein Schlussstrich“-Kampagne diskutieren.

Friedrich Burschel ist Ref­er­ent zum Schw­er­punkt Neon­azis­mus und Strukturen/Ideologien der Ungle­ich­w­er­tigkeit bei der Akademie für Poli­tis­che Bil­dung der Rosa Lux­em­burg Stiftung in Berlin. Er war über 5 Jahre akkred­i­tiert­er Kor­re­spon­dent des nicht-kom­merziellen Lokalsenders Radio Lotte Weimar im NSU-Prozess und ist Mitar­beit­er von NSU-Watch (nsu-watch.info). Seine Audio- und Print­beiträge zum Prozess und zum NSU sind auf der RLS-Home­page https://www.rosalux.de/dossiers/nsu-komplex/ zu finden. 

Weit­ere Infos: https://www.nsu-watch.info/  https://nsuprozess.net/

Eine Ver­anstal­tung in Koop­er­a­tion mit der Hein­rich-Böll-Stiftung Saar, Cri­Think! e.V. — Gesellschaft zur Förderung des kri­tis­chen Denkens und Han­delns, und ConnAct.