Bundesweite Demonstration gegen die Einheitsfeierlichkeiten
03. Oktober 2011 · 11.00 Uhr · Hauptbahnhof · Bonn
I. Neues, altes Deutschland
Mit dem Fall der Mauer und der „Wiedervereinigung“ wurde das Ende der Nachkriegsära eingeleitet. Eine der sichtbarsten Folgen von Nationalsozialismus und Auschwitz – die deutsche Teilung – wurde aufgehoben, die aus dem alliierten Sieg folgende geopolitische Schwächung Deutschlands beendet. Vorbei waren die Zeiten, in denen ein „Bundesrepublik” voran- oder ein „Demokratische Republik” nachgesetzt werden musste. Ohne die alliierte Aufsicht brach ungehemmt hervor, was ohnehin nie ganz besiegt oder aufgearbeitet war: Pogrome in Hoyerswerda, Mannheim und Rostock-Lichtenhagen, Brandanschläge in Mölln, Lübeck und Solingen sprachen eine deutliche Sprache der deutschen Einheit – die mehrheitlich als völkische, im Blut liegende, verstanden wurde. Bereits der Begriff der „Wieder”-Vereinigung macht das deutlich: Er unterstellt, es sei zusammengekommen, was schon immer zugesammengehört habe – und dessen Teilung unerträglich sei. Was da durch die schlichte Annexion der DDR vereinigt wurde, ein Deutschland in diesen Grenzen, hatte es jedoch vorher nie gegeben. Am ehesten entspricht es noch den Grenzen der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches” bis zum „Anschluss” Österreichs. Weite Teile des heutigen Polens gehörten 1918 wie 1937 ebenfalls noch zu „Deutschland” – ein noch bis heute geäußerter Anspruch. Plakativ zeigte er sich 1991 an der Wiederaufnahme des bis zum Kriegsende gültigen Namens „Mitteldeutscher Rundfunk” für den in Leipzig sitzenden Sender: Eine faktische Nicht-Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Diese musste bei den Verhandlungen zur „Wieder“-Vereinigung von Polen unter massivem Widerstand der deutschen Regierung erstritten werden.
Die sich in dieser Klarheit offenbarenden volksgemeinschaftlichen Kontinuitäten in Denken und Handeln der Deutschen im Jahre 1989 markierten eine Zäsur, der sich linke Kritik stellen musste. Spätestens jetzt hätten auch die letzten Linken einsehen müssen, dass eine radikale Kritik an nationaler Vergemeinschaftung auf rassistischer Grundlage und an der Relativierung von Auschwitz nötig war. Denn das völkische Denken war gesamtgesellschaftlicher Konsens, was sich unter anderem in der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl zeigte, die im „Asylkompromiss“ von CDU, CSU, FDP und der SPD-Opposition mit vereinten Kräften beschlossen wurde. In den Angriffen auf die als fremd Markierten setzte der deutsche Mob auf der Straße durch, was später im Bundestag in Gesetzesform gegossen wurde: „Wir sind ein Volk“.
Eine weitere Zäsur stellte die 1998 von der rot-grünen Bundesregierung eingeleitete „Berliner Republik” dar. Das Bild der Nation wandelte sich. Seit dem „Sommermärchen“ 2006 präsentieren Medien wie Politiker_innen stolz die vielen „Migrant_innen“, die in den deutschen Fußball-Nationalteams spielen. Und tatsächlich gibt es konkrete Veränderungen im Staatsbürgerschaftsrecht, Samy Deluxe findet Deutschland mittlerweile ganz knorke und in jeder Deutschland-Werbung werden people of colour inszeniert. Allerdings wird die völkische Vorstellung der Nation auf mehreren Ebenen fortgesetzt: Für die, die da ganz happy das „moderne Deutschland“ propagieren, gelten die Özils, Kadiras und Jones ja gerade nicht als „normale Deutsche“, sondern sind – reduziert auf ihren „Migrationshintergrund“ – nur die Aushängeschilder der vermeintlichen Modernisierung. Für den Mob und die Medien sind sie gerade gut genug, wenn sie Tore schiessen, gleichzeitig wird aber ganz genau hingeschaut, ob „die“ auch die Nationalhymne mitsingen und sich auch gegen die Türkei richtig ins Zeug legen. Die Integrationsdebatte des letzten Jahres hat gezeigt, dass mittlerweile auch CDU-Poliker_innen mehr „gezielte“ Einwanderung fordern. Sie haben erkannt, dass es besser ist, den völkischen Nationalismus nicht offen zu formulieren, und dass Immigration ökonomisch unausweichlich ist. Doch auch wenn dies bedeutet, dass es für einen Menschen etwa aus Pakistan mit technischer Ausbildung evtl. einfacher wird, einen Aufenthaltsstatus zu bekommen, vielleicht sogar einen deutschen Pass, wird ihn_sie die Frage, wo er_sie denn „eigentlich herkommt“, ein Leben lang begleiten. Eine Frage, die auch fällt, wenn es sich um die Kinder bereits Eingewanderter handelt. Es bleibt dabei: Richtig deutsch ist, wer von Deutschen abstammt.
Seit der Berliner Republik findet auch eine offensive Umkehr in der Erinnerungspolitik statt. Die zuvor noch abgewehrte Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen wurde institutionalisiert. Was früher beschwiegen wurde, legitimiert heute unter ständigem Gerede von „Verantwortung“ deutsche Politik. Die Vergangenheit wird nicht mehr geleugnet, stattdessen deren „Aufarbeitung” in den Vordergrund gestellt. Während die Deutschen sich zuvor mittels Schweigen einer ernsthaften Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte entzogen, tun sie es heute durch die Guidoknoppisierung der Geschichte und das Geschwätz von „deutschen Opfern“ in Dresden. Diese Pseudoreflexion wird dabei noch zum moralischen Alleinstellungsmerkmal aufgewertet: Ausgerechnet mit den deutschen Verbrechen begründete der grüne Außenminister Joschka Fischer den ersten Auslandseinsatz der Bundeswehr gegen das in diesem Jahrhundert bereits zum dritten Mal von Deutschen attackierte Serbien. Auschwitz und seine „Aufarbeitung” verkommen somit zur ideologischen Rechtfertigung für Deutschland, seine Interessen im Ausland auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.
Heute ist Deutschland wieder Global Player, Exportweltmeister und die Führungsmacht in Europa. Selbstbewusst wird mittlerweile ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat gefordert, in dem Gremium also, das als Reaktion auf die deutschen Angriffskriege gegründet worden war. Nach den USA hat die Bundeswehr die meisten Soldat_innen auf dem Erdball verteilt, Deutschland ist weltweit drittgrößter Rüstungsexporteur. Daran wird auch die Krise nichts ändern. Am Entwurf der europäischen Krisenreaktion ist Deutschland federführend beteiligt, sie folgt somit insbesondere deutschen Wünschen. Hier wirken ideologische wie wirtschaftliche Interessen zusammen: „Old Europe“ soll als Gegenmacht zu den USA in Stellung gebracht und gleichzeitig der Euro-Raum im Sinne deutscher Tugenden zu Fleiß und Sparsamkeit angehalten werden – und nebenbei sollen alle EU-Staaten ordentlich deutsche Produkte importieren. Dies geschieht zu Lasten der „Pleite-Griechen”, denen, begleitet von einer Hetzkampagne gegen „faule Südländer”, ein beispielloses Sparprogramm diktiert wird, ohne dass die Auswirkungen deutscher Niedriglohn- und Handelspolitik auf die anderen EU-Staaten ins Visier geraten.
Eine heutige Kritik an Deutschland muss etwas zu dieser spezifischen deutschen Situation zu sagen haben. Wenn sie den hiesigen Verhältnissen angemessen sein soll, muss sie die Kritik eines Nationalismus beinhalten, der sich in Deutschland immer völkisch formierte und sich notwendig auf Auschwitz beziehen muss.
II. Deutscher Sonderweg
Auschwitz, der industrielle Massenmord, war mehr als der bis heute gern postulierte „Betriebsunfall”. Bereits im Kaiserreich proklamierten die Deutschen einen Sonderweg, der sich sowohl gegen die aufklärerischen Entwicklungen in Frankreich als auch gegen das „rückschrittliche“, zaristische Russland abzugrenzen suchte. Dem stellten sie das Konstrukt einer deutschen Kultur und eine Ideologie von Gehorsam, Treue und Hingabe an die Gemeinschaft entgegen. Gerüstet mit diesen „Tugenden“ und der Vorstellung, die Welt solle am „deutschen Wesen“ genesen, wurden der Kolonialismus und die Mobilmachung für den Ersten Weltkrieg untermauert.
Selbstverständlich gibt es keinen „normalen” Weg in die kapitalistische Moderne, auch die Entwicklung der „westlichen” Gesellschaften war blutig, gewaltvoll und mörderisch. Jedoch bleibt die immer wiederkehrende Frage, warum keine andere Nation versuchte, sich der Widersprüche der gesellschaftlichen Modernisierung durch die restlose, industriell betriebene Vernichtung der europäischen Jüdinnen_Juden, Sinti und Roma zu entledigen. Der deutsche Sonderweg und die deutsche Ideologie zeichnen sich bis heute durch eine aufklärungsfeindliche und autoritätshörige Gesinnung aus, welche auf die besondere politisch-ideologische sowie ökonomische Entwicklung im Verlauf der deutschen Staatsgründung zurückzuführen ist. Im Gegensatz zu anderen Staaten blieb die bürgerliche Revolution in Deutschland aus – dem in den deutschen Staaten immer schon schwachen Bürgertum gelang es nie, über den Ständestaat zu triumphieren, das deutsche Volk konstituierte sich nie als politischer Souverän, sondern immer als Blutsgemeinschaft. Die späte Staatsgründung ging nicht als revolutionärer Prozess, sondern als großmachtpolitische Reichsgründung vonstatten. Gleichzeitig gelang eine rasante ökonomische Modernisierung und Transformation im Sinne der Kapitalakkumulation. Den daraus entstehenden sozialen Verwerfungen wurde in Deutschland in dieser autoritär-völkischen Tradition mit der Schließung der Volksgemeinschaft als Form einer reaktionären Modernisierung begegnet.
Wer behauptet, Deutschland habe nie einen Sonderweg beschritten oder ihn mittlerweile verlassen, kommt nicht drumherum, Auschwitz und seine Wurzeln im völkischen Nationalismus zu leugnen, zu verharmlosen oder zu relativieren.
III. Deutsche Arbeit
Die Tradition der deutschen Obrigkeitshörigkeit wurzelt in einer spezifischen Vorstellung von Arbeit, welche sich auch im „autoritären Charakter“ findet. Das deutsche Arbeitsethos wurde seit der Reformation entscheidend durch die Überzeugung geprägt, dass Arbeit an sich von moralischem Wert, also Selbstzweck sei, und so das arbeitende Subjekt in die Gesellschaft integriere. Im Calvinismus Englands hingegen definiert sich Arbeit vor allem über ihren Output, also über das gefertigte Produkt sowie den produzierten Tauschwert. Der Zwang zur Arbeit wurde nur in den deutschen Staaten zu einem positiv besetzten und selbst auferlegten Drang, tätig zu sein. Für alle als „Nicht-Arbeitende“ oder als „Zigeuner“ Stigmatisierten gab es keinen Platz, sie wurden als Gefahr für die Gesellschaft verfolgt. Die größte Bedrohung jedoch sah schon Martin Luther in „den Juden“, die vor allem mit der abstrakten Zirkulationssphäre assoziiert und als Wucherer zum raffenden Negativ der schaffenden deutschen Arbeiter_innen stilisiert wurden.
Die deutsche Ideologie der Arbeit versteht diese nicht als notwendige Naturberherrschung und matierelle Existenzsicherung, sondern als Beitrag der Einzelnen zum Wohle des Volkes. Partikularinteressen werden als egoistische Schädigung der nationalen Gemeinschaft geächtet. Im Kapitalismus generiert sich Arbeit als „Vergegenständlichung vermittelter gesellschaftlicher Beziehungen“ (Moishe Postone), wird jedoch nicht als solche erkannt. Vielmehr gehen die arbeitenden Subjekte davon aus, einem schöpferischen Prozess nachzugehen. Eigentlicher Zweck der Lohnarbeit ist jedoch die Schaffung von Mehrwert durch die Verausgabung abstrakt menschlicher Arbeit. Die verschleierte Entfremdung von der eigenen Arbeitskraft manifestiert sich im Ressentiment gegen den abstrakten Teil des Produktionsprozesses, welchem wiederum im Stereotyp des „raffenden Juden“ ein Gesicht gegeben wird. Diese Vorstellung kulminierte im Nationalsozialismus in der Gegenüberstellung von „Arier” und „Jude”. Antikapitalismus in seiner deutschesten Variante versuchte, Entfremdung und Klassenspaltung ein für alle mal in der Volksgemeinschaft aufzulösen: An Stelle einer dialektischen Kritik von Wert und Ware trat die „Endlösung der Judenfrage”.
Als im Mai 1945 dem Vernichtungswahn durch die alliierten Streitkräfte ein Ende gesetzt wurde, hatten die Deutschen sechs Millionen Jüdinnen_Juden, eine halbe Million Sinti und Roma sowie unzählige andere „Volksfeinde” ermordet. Und als wäre nichts gewesen, gingen sie zurück an die Arbeit. Diese funktionierte weiter als scheinbar vorpolitische Größe, an der sie sich aufrichten konnten. So wurde in Westdeutschland die Erinnerung an Deportationen und Massenvernichtung durch die lebhaften Bilder eifriger Trümmerfrauen und den Stolz auf das „Wirtschaftswunder” ersetzt: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen.“ (Franz-Josef Strauß, 1969) Dabei wird der immense Vorteil unterschlagen, den deutsche Firmen aus Zwangsarbeit und „Arisierungen“ zogen. Auch die großzügige Unterstützung durch die Allierten und der Erlass der deutschen Kriegsschulden Anfang der Fünziger Jahre – motiviert durch den beginnenden Kalten Krieg – sowie die weitgehende Ablehnung sogenannter „Entschädigungszahlungen“ an ehemalige Zwangsarbeiter_innen und Opfer der Deutschen Arisierungs- und Vernichtungspolitik spielen in der deutschen Erinnerung keine Rolle.
Die Vorstellung von Gesellschaft als einig für die Gemeinschaft arbeitendes Volk besteht fort, Arbeit bleibt in Deutschland Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Integration. Während Arbeitslose in Frankreich mehr Geld fordern, schreien sie hierzulande nach Arbeitsplätzen. Denn „Vollbeschäftigung” wird nicht als Drohung empfunden, sondern ist immer noch ein gern gesehenes Wahlversprechen. Im Ein-Euro-Job zeigt sich die ganze Sinnentleertheit deutscher Arbeit. Oft wird hier nicht einmal Mehrwert erzeugt, sondern bloß der Zwang zu Arbeiten dort durch den Staat aufrechterhalten, wo der Markt nicht mehr greift. In Deutschland ist gesellschaftliche Teilhabe immer an Lohnarbeit gebunden, nicht als Selbsterhaltung, sondern als Dienst an der Nation.
IV. Gedenken und Postnazismus
In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurden – geplant von SA und weiteren Teilen der NSDAP, ausgeführt von „ganz normalen Deutschen” – im gesamten Reich Synagogen in Brand gesteckt, Jüdinnen_Juden misshandelt, eingesperrt und ermordet. Was hier in der kollektiven Raserei in Erscheinung trat, vollzog sich später in den Gaskammern der Konzentrationslager und den Erschießungsaktionen der Einsatzgruppen. Akribisch versuchten die Deutschen noch die letzten Jüdinnen_Juden aufzuspüren und zu ermorden. Diesem Vorgehen kann keine ökonomische Ratio untergejubelt werden, Motivation war einzig der Wunsch nach vollständiger Vernichtung. Genau hier zeigt sich der Umschlag der instrumentellen Vernunft, das Scheitern an der nicht mehr mit ihr verbundenen Humanität. Die Aufklärung und ihr Wissen wurden nicht zur Befreiung der Menschen aus ihrem Joch, sondern zur Vernichtung der „Gegenrasse” genutzt. Durch Beteiligung, Zustimmung und Unterstützung dieser antisemitischen Raserei bekundete die übergroße Mehrheit der Deutschen Geschlossenheit und Einverständnis mit der massenhaften Vernichtung von Jüdinnen_Juden, als deren Auftakt dieses Pogrom zu fassen ist. Nicht zufällig wurde eben nicht der zunächst angedachte 9. November 1989 als Jahrestag des Mauerfalls zum „Tag der deutschen Einheit” erwählt. Die Jubelarien des neuen Deutschland sollten nicht durch seine fünfzig Jahre zurückliegende Geschichte bedroht werden.
Doch von solcherart Augenwischerei sollte sich keine_r verwirren lassen: Die deutsche Volksgemeinschaft, dieser kollektive Zusammenschluss, der sich in seiner Einheit permanent vom „Gegenvolk” bedroht fühlt, hat mit der militärischen Niederlage 1945 keineswegs ein Ende gefunden. Mit dem Begriff des Postnazismus wird die Tatsache gefasst, dass mit der militärischen Niederlage 1945 zwar das Morden endete, die viel beschworene „Stunde Null” aber nie eintrat. Vielmehr haben die nachnationalsozialistischen Demokratien in Deutschland und Österreich Struktur- und Ideologieelemente des Nationalsozialismus modifiziert in sich aufgenommen. Die Kontinuität, die sich am augenfälligsten in der Vernichtungspolitik der Nationalsozialist_innen als Basis des heutigen Massenwohlstandes ausdrückt, bestimmt bis heute den Umgang mit der Nation. Der Antisemitismus wurde durch die offizielle Tabuisierung zeitweilig in den psychischen Untergrund gedrängt, verschwunden ist er aber nicht.
Ein Bruch existiert also nur in der Bildung von Tabus, der Abdrängung von offen antisemitischen Aussagen in eine Kommunikationslatenz. Unter deren Druck entwickelte sich eine eingeschworene Gemeinschaft, deren Antisemitismus sich wandeln musste, aber nicht verschwand. Vielmehr gab es bereits 1950 massiven Protest gegen die Rückerstattung jüdischen Eigentums, ein Zeichen für den Wunsch, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu vergessen und die mit ihnen verbundenen Gefühle verschwinden zu lassen. Die zentrale Bedingung für letzteres war die Verdrängung der Vergangenheit insgesamt, insbesondere aber die der Geschichte der Opfer der deutschen Verbrechen. Die solcherart Vergemeinschafteten agierten gegen jede Bedrohung dieses Status Quo, der ihnen die Möglichkeit zur weiteren Identifizierung mit Deutschland bot, gegen Mahner_innen und Überlebende. So steckte in der „kollektive[n] Gewalt der Abwehr des gesamten Schuldzusammenhangs“ (Theodor W. Adorno) ein Antisemitismus, der die einstigen Opfer vergessen wollte oder verhöhnte.
Die nach Auschwitz für immer zerstörte positive Identifikation mit deutsch-nationaler Identität zu restaurieren und die kollektiv-narzisstischen Beschädigungen zu überwinden, ist das Ziel der Täter_innengesellschaft. So wird Auschwitz mittlerweile in alle Welt exportiert, indem über dortige Grausamkeiten vergleichend berichtet wird. In Jugoslawien wird es direkt bekämpft, in Dresden mit den alliierten Bombardements gleichgesetzt.
Aus Täter_innen werden Opfer und Geläuterte, überall ist von „bewältigter Vergangenheit” und dem „kollektiven Lernen” der deutschen Gesellschaft zu hören. Diese Beschwörungen sind zum ritualisierten Element des neueren Erinnerungsdiskurses geworden. So wird gerade durch die Etablierung des Erinnerns an Auschwitz Abwehr provoziert. Zwischen der Ablehnung selbstkritischer Auseinandersetzung und der Äußerung von Vorurteilen besteht ein Zusammenhang, das Unbearbeitete bricht sich immer wieder Bahn in reformulierten Ressentiments gegen Erinnernde und Jüdinnen_Juden. Das vorherige kollektive Schweigen über die deutsche Schuld wurde von einer Beredsamkeit über den Nationalsozialismus, die „deutschen Diktaturen” und die „Vertreibungen” abgelöst. Die immer präsente Bedeutung der Vergangenheit wurde nachhaltig in die Öffentlichkeit gerückt. Dabei führen die intensivierten Vergangenheitsdiskurse jedoch keineswegs zu mehr Aufklärung, sondern begünstigen auch die teils subtilen, teils unverhüllten Abwehrformen. Die Abwehr kann heute Auschwitz gerade als ihre Stärke darstellen, muss sich nicht mehr daran vorbei stehlen. Deutschland soll als „Aufarbeitungsweltmeister“ besonders sein, da es aus Auschwitz gelernt hat. Auf der anderen Seite wird versucht, sich als normal darzustellen, damit sich wieder ungehemmt positiv auf Deutschland bezogen werden kann. Es wird ein Wandel im Verständnis der Nation hin zum Verfassungspatriotismus „wie überall sonst” behauptet. Dieses „überall sonst”, womit in der Regel andere europäischen Staaten gemeint sind, ist dabei zumeist reine Projektion. Der Irrsinn der Normalität ist eben kein Wunsch nach Gleichartigkeit zu „überall sonst“, sondern wünscht sich die bruchlose Identifikation mit Deutschland.
Bereits durch das Beanspruchen der europäischen Normalität für die deutsche Geschichte wird Auschwitz in Europa verteilt. Und darüber hinaus. Denn bereits die Existenz Israels erinnert an die deutschen Verbrechen. Durch die Täter_innen-Opfer-Umkehr, die zum Kitten des Bruches mit Deutschland nach 1945 notwendig ist, werden Jüdinnen_Juden kollektiv als „Tätervolk“ imaginiert. Auf sie wird das eigene schlechte kollektive Gewissen projiziert, da sie der erwünschten Normalität im Wege stehen. So wird die Politik Israels mit der des Nationalsozialismus parallelisiert, wie sich zum Beispiel bei den reflexhaften Vergleichen der Situation im Gazastreifen mit der im Warschauer Ghetto zeigt. Israel erscheint so als projektives Zerrbild eines „staatlich kollektivierten Juden”. In Deutschland, wo sich der Antisemitismus an die gesellschaftlichen Bedingungen nach der Niederlage anpassen musste, war es die Linke, die jenen nach dem Sechstagekrieg 1967 als Antizionismus reformulierte und ihn damit wieder salonfähig machte. So kann es auch nicht verwundern, dass der einzige von allen Parteien gestützte Bundestagsbeschluss der aktuellen Legislaturperiode ausgerechnet der von der Partei „Die Linke“ eingebrachte Antrag ist, der Israel nach der Erstürmung der ersten „Gazaflotille“ verurteilte.
V. Deutschland hassen!
Wer am 3. Oktober gegen deutsche Zustände auf die Straße geht – an jenem Tag also, der statt des 9. November als Feiertag gewählt wurde, um nicht mehr über Auschwitz reden zu müssen – muss eine Kritik an dieser deutschen Spezifik formulieren. Eine Kritik, die die Besonderheiten Deutschlands nicht zu erkennen vermag, die die Vorgänge in diesem Land lediglich aus der weltweiten Standortkonkurrenz erklären will, greift nicht nur zu kurz – sie geht auch der Ideologie des neuen, geläuterten Deutschland auf den Leim. Schlimmer noch: Eine Entschuldung Deutschlands aus den Reihen der radikalen Linken, wo eigentlich die erbittertsten Feinde der Nation stehen müssten, bestätigt dieser Gesellschaft, heute eine unter vielen zu sein. Die deutsche Nation kann nicht nur in ihrer Funktion als Mobilisierung der Bevölkerung im Kampf innerhalb der Weltmarktkonkurrenz verstanden werden. Denn dadurch werden die Subjekte nur als Nationalautomaten verstanden und ohne eigenes intentionales Handeln aus ihrer Eigenverantwortung entlassen. Dabei ist es gerade die dialektische Verwobenheit von gesellschaftlichen Verhältnissen und ihrem Niederschlag im Individuum, die im Hinblick auf Auschwitz zu ergründen sind.
Ein konform zur deutschen Vergangenheitsbewältigung gehender Fortschrittsglaube ist also schon deshalb ein Skandal, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse fortexistieren, deren Dynamik die Liaison von Rationalität und Wahn und damit die industriell organisierte Vernichtung ermöglichte. Der deutsche Nationalismus hat sich immer wieder gegen die ökonomische Vernunft gestellt, der ihm inhärente Antisemitismus kann nicht berechnet werden.
Die von der deutschen Ideologie formulierten und ausgeführten Ausschlüsse gehen weit über die hinaus, die für die kapitalistische Produktionsweise notwendig sind. Nicht nur der über den Sieg an der Ostfront gestellte Betrieb der Vernichtungslager bleibt unerklärlich, wenn man sie nicht mitdenkt, sondern auch der deutsche Alltag. Immer noch wird diese Ideologie jeden Tag reproduziert und in der Praxis vollzogen: von den Vertriebenenverbänden, die keinen Frieden mit Polen und Tschechien schließen wollen, von den Antiziganist_innen, die im Juli 2011 in Leverkusen ein von Roma bewohntes Haus anzündeten, von Sachbearbeiter_innen im Jobcenter, von Fußballkommentator_innen, die von „deutschen Tugenden“ im Sport faseln, von Nazischläger_innen auf der Straße – und von linken Antisemit_innen, die dasselbe hassen wie ihre Nazigroßeltern: die USA und Israel.
Gegen sie alle gilt es, weiterhin die Kritik an den deutschen Verhältnissen zu schärfen und dabei auch jene einzubeziehen, die über eine verflachte Analyse der Verhältnisse und der Nation im Speziellen sowie den Aufruf zur Praxis versuchen, die „linke Masse“ zu mobilisieren. Solange die Mehrheit der Bevölkerung bis hinein in die radikale Linke weiterhin der deutschen Ideologie anhängt, wird sich eine radikale Kritik notwendig gegen diese richten müssen.
Nie wieder Deutschland – Für den Kommunismus!