Die Burschenschaft „Ghibellinia zu Prag in Saarbrücken“ hatte ihre Online-Aktivitäten nach diversen Skandalen (erinnert sei z. B. an rechte Referenten, Geschichtsrevisionismus, Kontakte zu Mitgliedern der saarländischen Kameradschaftsszene, Witze über Vergewaltigungen, Aufrufe zum „Pogrom“ und zur „Negerjagd“) für einige Zeit auf Facebook verlagert und verfügt nun über eine überarbeitete Website. Auf dieser präsentiert sich die Burschenschaft als „liberal-konservative Studentenverbindung der Mitte“, die gute „Verhältnisse“ zur saarländischen Politik und Universität des Saarlandes hat.
Nachdem die Ghibellinia in den letzten zwei Jahren in einer breiteren Öffentlichkeit in die Kritik geraten ist und mit einem Ansehensverlust zu kämpfen hat, gibt sich die Burschenschaft nun gesprächsbereit gebenüber ihren „Kritikern“ und Menschen mit „Vorurteilen“. Dazu zitiert die Ghibellinia nun ausgerechnet Theodor W. Adorno, den Philosophen und Soziologen und Begründer der kritischen Theorie, mit den Worten: „Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind.“
Screenshot des Zitates auf der Seite der Ghibellinia zu Prag in Saarbrücken:
Die Verwendung dieses Zitats durch die Ghibellinia ist an Widerlichkeit und Dummheit zugleich nicht zu überbieten. Denn, wie nicht anders zu erwarten erwähnt die Ghibellinia in der Darstellung ihrer Geschichte nach wie vor die Verstrickungen der Burschenschaft in den Nationalsozialismus mit keinem Wort. Stattdessen sieht man sich weiterhin als Opfer, denn die Burschenschaft Ghibellinia habe sich 1938 auf Druck des „Nationalsozialisitischen Studentenbundes“ (Fehler im Original) auflösen müssen. Der Name ihres Gründers und NS-Vordenkers Karl Hermann Wolf und auch der des nationalsozialistischen Überzeugungstäters Hugo Jury fallen in der Rubrik „Geschichte“ kein einziges Mal. Während sich die Burschenschaft also weigert ihre eigene Geschichte ohne Scheuklappen aufzuarbeiten, die Konsequenzen zu ziehen und sich aufzulösen, wird mit Adorno jemand zitiert, den die Gründer der Ghibellinia am liebsten im Gas der Vernichtungslager ermordet hätten — Eine Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus und ein Missbrauch des Erinnerns an sie.
Darüber hinaus scheinen die Burschen die Schriften Adornos zur Halbbildung1, nicht verstanden oder gar nicht erst gelesen zu haben, denn in seinem Aufsatz kritisiert Adorno genau das, was die strammen Burschen tagtäglich produzieren. So schreibt Adorno nur eine Seite nach dem von den Ghibellinien angeführten Zitat: „Der Unbefangene wird weder wissen, was diese Definitionen sollen, noch, welcher Rechtsgrund ihnen innewohnt. Er wird sie entweder als Galimathias verwerfen und danach leicht in subalteren Hochmut gegen Philosophie überhaupt sich vermauern, oder er wird sie, unter Autorität des Namens, telles quelles schlucken und so autoritär wenden, wie etwa in weltanschaulichen Manuskripten von Dilettanten Zitate großer Denker zur Bekräftigung ihrer unmaßgeblichen Meinung umgeistern.“2 Die Ghibellinia hat sich offenbar für Zweiteres entschieden und zitiert Adorno des Namens wegen. Die Meinung der Ghibellinia ist schlicht nicht maßgeblich. Die Burschen haben nichts vollkommen und damit gar nichts verstanden oder wie Adorno, sein berühmtes Zitat einleitend, schreibt: „Wie es in der Kunst keine Approximalwerte gibt; wie eine halbgute Aufführung eines musikalischen Werkes seinen Gehalt keineswegs zur Hälfte realisiert, sondern eine jegliche unsinnig ist außer der voll adäquaten, so steht es wohl um geistige Erfahrung insgesamt.“3 Warum das so ist, konnte schon Adorno vor Jahrzehnten herausarbeiten, so schrieb er: „Bildung brauchte Schutz vorm Andrängen der Außenwelt, eine Schonung des Einzelsubjekts, vielleicht sogar die Lückenhaftigkeit der Vergesellschaftung.“4 Mit der Negierung von Individualität und dem Einpauken von Gehorsam, Härte und Gemeinschaft wird genau dieses verhindert. Wie das Subjekt sich im Großen in die Volksgemeinschaft eingliedern und sich damit dem Souverän unterwerfen soll, verlangt die Burschenschaft, die absolute Verinnerlichung „ihrer Werte“ (Ehre, Freiheit, Vaterland). Allein dadurch ist eine Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte und vor allem ihrer Kontinuität zum Nationalsozialismus schon nicht möglich. Das Adorno-Zitat wird seinem Wert beraubt und verkommt zu einer Maske hinter der sich die Mörder von gestern und die Täter von morgen verstecken.
Ein Foto von der Seite der Ghibellinia, welches daran erinnert, dass das Gründungsmitglied der Ghibellinia, Karl Hermann Wolf, bei einem Pistolenduell Badeni5 “besiegt” hat. Distanzierung? — Fehlanzeige:
Und obwohl zur Ghibellinia eigentlich schon mehr gesagt ist, als ein vernünftiger Mensch benötigt, um zu begreifen, dass dieser Männerbund zerschlagen werden muss, wollen wir der Öffentlichkeit an dieser Stelle nicht vorenthalten, dass sich nach wie vor auch bekennende Nazis im Umfeld der Ghibellinia bewegen. Anlässlich eines Vortrags des Ghibellinen Dominique Rossi am 28.06.2013 zum Thema „Vom Ereignis bis zur Nachricht – wie funktionieren Medien?“ war neben zahlreichen Burschis und weiteren „Gästen“ auch Niels Kandar (Landesgeschäftsführer der NPD Saar, NPD-Kandidat für die Bundestagswahl und Beisitzer im NPD Landesverband) auf dem Haus der Verbindung am Schmittenberg in Scheidt zu Gast. Kandar kam vor etwa einem Jahr aus Mecklenburg-Vorpommern ins Saarland und ist nach Angaben der NPD Auszubildender. Gerade durch den (revisionistischen) Umgang mit ihrer Geschichte, ihrer Bereitschaft zu Pflicht und Gehorsam und ihren positiven Bezug auf „Deutschland“ ist die Ghibellinia nach wie vor für Nazis attraktiv.
Sowohl die Burschenschaft Ghibellinia zu Prag in Saarbrücken, als auch die neonazistische NPD haben erhebliche Überschneidungspunkte in ihrer Ideologie. Aus diesem Grund gilt es auch beide zu bekämpfen!
Diskussion nach dem Vortrag? Dominique Rossi (links) und Niels Kandar (mittig) im Gespräch:
Die Bundestagskandidaten der NPD Saar (von links nach rechts): Frank Franz, Gerhard Ambrosius, Peter Marx, Peter Richter und Niels Kandar.
Fußnoten:
1 Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung. (1959) In: ders.: Gesammelte Schriften Band 8. Soziologische Schriften I, S. 93 – 121.
2 Ebd. S. 112.
3 Ebd. S. 111.
4 Edb. S. 106.
5 Graf Badeni war von 1895 bis 1897 Ministerpräsident des österreichischen Teils der k.u.k. Monarchie. Am 5. April 1897 erließ er eine Sprachenverordnung, welche die doppelsprachige Amtsführung (deutsch-tschechisch) in Böhmen und Mähren festlegte. Dies war für die deutschen Nationalisten schon Grund genug durchzudrehen und die Regierung zu stürzen.