Flugblatt: Für einen konsequenten Antifaschismus

Nazis mor­den, der Staat schiebt ab — Für einen kon­se­quenten Antifaschismus

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AntifasinHeidenau

Antifaschist_innen stellen sich in Hei­de­nau (Sach­sen) einem mar­o­dieren­den Naz­i­mob ent­ge­gen (23.8.2015) “Es ist schade, dass wir so auftreten müssen, aber es ist gut, dass wir es können”

1991 — 2015
Am 19. Sep­tem­ber 1991 wurde Samuel Kofi Yeboah, der aus Ghana in die Bun­desre­pub­lik geflüchtet war, bei einem ras­sis­tis­chen Bran­dan­schlag auf das Flüchtlingswohn­heim in Saar­louis-Fraulautern, in dem Samuel Yeboah lebte, ermordet. Der Mor­dan­schlag ist bis heute nicht juris­tisch aufgek­lärt, die Ermit­tlun­gen wur­den nach weni­gen Wochen ergeb­nis­los eingestellt. Samuel Yeboah war eines der ersten, lange aber nicht das let­zte Opfer ras­sis­tis­ch­er und neon­azis­tis­ch­er Brand- und Mor­dan­schläge nach der soge­nan­nten Wiedervere­ini­gung. In einem Kli­ma zunehmender ras­sis­tis­ch­er Mobil­machung sowohl auf der Straße als auch in den Rei­hen der etablierten Poli­tik kam es im wiedervere­inigten Deutsch­land täglich zu Über­grif­f­en und Anschlä­gen auf Asyl­suchende, Geflüchtete und Men­schen, die der ras­sis­tis­che Mob als „Aus­län­der“ brand­mark­te. Orte wie Hoy­er­swer­da (17.–23.9.1991), Ros­tock-Licht­en­hagen (22.–26.8.1992), Mölln (23.11.1992) und Solin­gen (29.5.1993) sind bis heute untrennbar verknüpft mit den ras­sis­tis­chen Pogromen, Über­grif­f­en und Mor­den der Nachwendezeit.
Wenn man sich heute, im Jahr 2015, die Bilder aus Tröglitz, Fre­ital und Hei­de­nau anschaut, meint man sich unweiger­lich zurück­ver­set­zt in die frühen 1990er Jahre. Unterkün­fte für Geflüchtete wer­den angezün­det, und auf den Straßen und im Inter­net tobt sich eine wider­liche Melange aus Neon­azis und ras­sis­tis­chen Bürg­ern aus und het­zt gegen „Asy­lanten“, „Aus­län­der“ und „Lügen­presse“. Hat sich nichts geän­dert in den let­zten 25 Jahren? Dabei war man doch so stolz auf das „Som­mer­märchen“ 2006, als die ganze Welt die Gast­fre­undlichkeit der Deutschen ken­nen und lieben lernte.

Refugees Wel­come?
Deutsch­land im Spät­som­mer 2015 ken­nt vor allem ein The­ma: die Ankun­ft zehn­tausender Men­schen, vornehm­lich aus Syrien, die nach teils monate- und jahre­langer Flucht vor Krieg und islamistis­chem Ter­ror­regime Europa erre­ichen. Hat­te man bish­er die tausenden Ertrunk­e­nen im Mit­telmeer kon­se­quent ignori­ert und diejeni­gen, die den europäis­chen Kon­ti­nent lebend erre­icht­en, als „Prob­lem“ der Mit­telmeer-Anrain­er­staat­en Ital­ien und Griechen­land aus­ge­blendet, musste das europäis­che Gren­zregime vor den Migra­tions­be­we­gun­gen dieses Som­mers stel­len­weise kapit­ulieren. Die Real­ität set­zte die men­schen­ver­ach­t­en­den „Dublin-Verord­nun­gen“ zeitweise außer Kraft. Tausende Men­schen aus den Krisen- und Kriegs­ge­bi­eten Nordafrikas und des Nahen Ostens erre­icht­en das Land, wo sie nach dem Willen der Bun­desregierun­gen eigentlich nie hät­ten ankom­men dür­fen. Vielerorts tre­f­fen dieses Men­schen auf eine große Hil­fs- und Spenden­bere­itschaft, und tat­säch­lich scheint es in nicht gerin­gen Teilen der deutschen Bevölkerung dieser Tage große Empathie für die Sor­gen und Prob­leme der Ank­om­menden zu geben, die sich­er nicht zulet­zt durch promi­nente Bilder ertrunk­en­er Kinder geschaf­fen wurde. Über die Motive der Zurschaustel­lung dieses neuen nationalen Pro­gramms deutsch­er Willkom­men­skul­tur, das in solch absurde Szenen mün­det wie am Münch­en­er Haupt­bahn­hof, als die Schar der Helfer_innen ank­om­mende Geflüchtete mit Applaus-Spalier und Luft­bal­lons begrüßte und man darum stritt, der_die eifrig­ste Helfer_in zu sein, soll an dieser Stelle nicht weit­er einge­gan­gen wer­den. Deutsch­land im Spät­som­mer 2015 scheint auch ein all­ge­gen­wär­tiges „Refugees Wel­come“ zu sein.
Einerseits.

Asylkri­tik­er“ und ihre willi­gen Vollstrecker
Ander­er­seits sind da auch die Zusam­men­rot­tun­gen von Nazis und Ras­sis­ten, auf der Straße und im Inter­net, die Über­griffe und Anschläge auf Geflüchtete und ihre Woh­nun­gen. Im Saar­land mar­o­dieren unter der Führung des NPD-Kaders Sascha Wag­n­er die selb­ster­nan­nten „Saar­län­der gegen Salafis­ten“ (SaGe­Sa) von Ort zu Ort und ver­bre­it­en ihre men­schen­feindliche Het­ze. Doch auch, wenn SaGe­Sa sel­ten mehr als ein Dutzend Nazis vor Ort mobil­isieren kann, und seine Pro­tag­o­nis­ten viel Angriffs­fläche für Hohn und Spott liefern: Ban­den wie SaGe­Sa und ihre Sym­pa­thisan­ten bere­it­en den näch­sten Pogrom vor. Im Ger­sheimer Ort­steil Blies­dal­heim verübten Unbekan­nte einen Bran­dan­schlag auf die alte Schule des Ortes, die in naher Zukun­ft als Geflüchtete­nun­terkun­ft dienen soll. Ob die saar­ländis­che Polizei dieses Mal den oder die Täter_in ermit­teln wird, bleibt nach den Erfahrun­gen mit dem Umgang saar­ländis­ch­er Strafver­fol­gungs­be­hör­den mit ras­sis­tis­chen und nazis­tis­chen Brand- und Bombe­nan­schlä­gen in den ver­gan­genen Jahrzehn­ten zumin­d­est fraglich.
Doch bei all ihrer schein­baren Schwäche und Mar­gin­al­isierung dienen Naz­iban­den wie SaGe­Sag eben­so wie die Salon­faschis­ten von AfD und NPD gle­ichzeit­ig als Stich­wort­ge­ber nationaler Poli­tik. Wie mit dem soge­nan­nten „Asylkom­pro­miss“ von 1993, der die fak­tis­che Abschaf­fung des Men­schen­rechts auf Asyl in der BRD zur Folge hat­te, reagiert die Berlin­er Poli­tik erneut mit ein­er weit­eren Ver­schär­fung des Asylge­set­zes, die zum 1. August 2015 in Kraft getreten ist. Während auf der einen Seite also mit viel geheuchel­ter Empathie die BRD zum Refugees-Wel­come-Welt­meis­ter verk­lärt wird, wer­den die Forderun­gen der euphemistisch zu „Asylkri­tik­ern“ stil­isierten Ras­sis­ten in die Tat umge­set­zt. Die Unter­schei­dung in „gute“, also recht­mäßige Kriegs­flüchtlinge aus Syrien und zu „Wirtschafts­flüchtlin­gen“ dif­famierte Men­schen, vornehm­lich Roma aus den Balkan-Staat­en, ist eine Posi­tion, die sich längst nicht nur in den Rei­hen der notorisch ras­sis­tis­chen CSU, son­dern in weit­en Teilen der offiziellen Poli­tik fest­ge­set­zt hat. Der kurze Som­mer der Men­schlichkeit, in dem man bei soge­nan­nter „ille­galer“ Ein­reise auch mal bei­de Augen zuge­drückt hat, ist auch schon wieder vor­bei. Mitte Sep­tem­ber 2015 set­zte die Bun­desregierung das „Schen­gener Abkom­men“ vor­erst außer Kraft und begann mit der Wiedere­in­führung von Gren­zkon­trollen, um Geflüchtete an den deutschen Außen­gren­zen abzuweisen. Andere EU-Staat­en ziehen bere­its nach. Gle­ichzeit­ig wer­den Stim­men lauter, die ver­stärk­te mil­itärische Gewalt gegen als „Schlep­per“ dif­famierte Fluchthelfer_innen und die Zer­störung ihrer Boote fordern. Repres­sive Maß­nah­men wer­den nie­man­den an der Flucht vor Krieg und Ter­ror hin­dern. Sie wer­den die ohne­hin schon lebens­ge­fährliche Flucht nur noch gefährlich­er machen. Nicht zulet­zt bleibt die Frage, wie lange sich die offene Ein­stel­lung Geflüchteten gegenüber noch hal­ten wird, oder ob das zunehmende Her­auf­beschwören von Bedro­hungsszenar­ien und Kapaz­itäts­gren­zen die Stim­mung nicht doch kip­pen lassen wird.

… der Staat schaut zu
Ein anderes The­ma gerät vor der aktuellen All­ge­gen­wär­tigkeit der Flucht­be­we­gun­gen nach Europa in den Hin­ter­grund: die Aufar­beitung der ras­sis­tis­chen Morde durch die Nazi-Ter­ror­gruppe „Nation­al­sozial­is­tis­ch­er Unter­grund“, die in ein­er beispiel­losen Mord­serie zwis­chen 2000 und 2007 zehn Men­schen ermordete. Dabei zeigt das, was in den ver­gan­genen Jahren durch zahlre­iche Unter­suchungsauss­chüsse und vor allem nicht­staatliche Rechercheini­tia­tiv­en wie etwa nsu-watch.info aufgedeckt wurde, einen teil­weise so starken Unwillen der Ermit­tlungs­be­hör­den und eine über jedes Maß des Erträglichen hin­aus­ge­hende Verquick­ung mehrerer „Verfassungsschutz“-Behörden in die Mord­serie, dass auch das let­zte noch vorhan­dene Ver­trauen in den soge­nan­nten Rechtsstaat bis ins Mark erschüt­tert sein müsste. Die polizeilichen Ermit­tlun­gen zu den jahre­lang als „Dön­er-Morde“ beze­ich­neten Hin­rich­tun­gen durch die NSU-Mit­glieder waren geprägt von ras­sis­tis­chen Vorurteilen seit­ens der Behör­den und den Ver­suchen, die Opfer und Betrof­fe­nen zu krim­i­nal­isieren und ihnen die Ver­ant­wor­tung zuzuschieben. Die Aufk­lärung der Ver­strick­un­gen einzel­ner Mitar­beit­er und Behör­den der „Verfassungsschutz“-Landesämter wer­den durch das Sper­ren und Ver­nicht­en ganz­er Aktenbestände mit hohem Aufwand block­iert, doch selb­st das, was bekan­nt ist, reicht aus, um von min­destens ein­er Mitwisser­schaft, wenn nicht gar Mit­täter­schaft von Ange­höri­gen des soge­nan­nten „Ver­fas­sungss­chutz“ aus­ge­hen zu müssen. Wenn es um Ter­ror von rechts geht, erscheinen staatliche Behör­den nur allzu oft unwillig, die Täter zu ermit­teln. Wed­er der Mord an Samuel Yeboah noch zahlre­iche weit­ere Anschläge und Anschlagsver­suche im Saar­land in den 1990er Jahren, und auch der Bombe­nan­schlag auf die Ausstel­lung „Ver­brechen der Wehrma­cht“ im Jahre 1999 in Saar­brück­en wur­den bis zum heuti­gen Tage nicht aufgeklärt.
Dass das ange­bliche Ver­sagen der Behör­den weniger tat­säch­lich­es Ver­sagen als viel öfter poli­tis­ches Kalkül ist, kon­nte man Ende August 2015 im säch­sis­chen Hei­de­nau deut­lich sehen: über drei Tage ließ man einen mar­o­dieren­den Naz­i­mob, der ein bezugs­fer­tiges Geflüchteten­wohn­heim angriff, mehr oder weniger gewähren. Selb­st die Tat­sache, dass die Nazis die zahlen­mäßig weit unter­lege­nen Polizist_innen vor Ort attack­ierten und über 30 von ihnen ver­let­zten, führte mit­nicht­en zu einem kon­se­quenten staatlichen Durch­greifen. Lediglich eine Fes­t­nahme wurde gemeldet. Als sich am zweit­en Tag Antifaschist_Innen nach Hei­de­nau begaben, um sich den Nazis in den Weg zu stellen, hat­te die säch­sis­che Polizei kein Prob­lem damit, mehrere Hun­dertschaften neb­st Wasser­w­er­fer nach Hei­de­nau zu schaf­fen. Wo dem Naz­i­mob am Vor­abend noch freie Hand gelassen wurde, prügel­ten säch­sis­che Polizis­ten die angereis­ten Antifaschist_innen nun unter bru­taler Gewal­tan­wen­dung zurück zum Bahnhof.

Für einen kon­se­quenten autonomen Antifaschismus
Was bleibt, ist die Erken­nt­nis, dass man sich auf staatliche Insti­tu­tio­nen nicht ver­lassen sollte. Deren Agieren fol­gt logis­cher­weise immer einem poli­tis­chen Pro­gramm, das, auch wenn es sich manch­mal men­schen­fre­undlich geriert, nichts mit dem Kampf um eine befre­ite Gesellschaft, in der Jede_r nach ihrer_seiner Façon glück­lich wer­den kann, zu tun hat. Wenn es der Staat­srä­son in den poli­tis­chen Kram passt, lässt man Blockierer_innen von Nazidemos auch mal gewähren („Thierse, block­ierse!“); wenn die Order anders lautet, wer­den Antifaschist_innen mit aller Gewalt und unter großzügigem Ein­satz chemis­ch­er Kampf­stoffe wie „Pfef­fer­spray“ von der Straße geprügelt. Und die eben noch so aggres­siv zur Schau gestellte „Willkom­men­skul­tur“ Geflüchteten gegenüber kann über Nacht schon wieder vor­bei sein – dann wer­den Gren­zen geschlossen und an den EU-Außen­gren­zen mit Wasser­w­er­fern, Trä­nen­gas und bisweilen auch schar­fer Muni­tion auf Men­schen geschossen.
Der Abwehrkampf gegen Nazis und andere Wider­linge kann deshalb, wenn er ernst gemeint ist, auch nicht daraus beste­hen, an den Staat zu appel­lieren und repres­sive Sank­tio­nen gegen Nazis zu fordern. Antifaschis­tis­ches Engage­ment muss dort, wo es erfol­gre­ich sein will, ein klares Ziel ver­fol­gen: Nazis daran zu hin­dern, das zu tun, was sie tun, wenn man sie nicht hin­dert. Das bet­rifft auch ihre Aufmärsche und ihre Veröf­fentlichun­gen online wie offline, für die sie nur allzu gerne demokratis­che Grun­drechte für sich in Anspruch nehmen. Doch wer so offen gegen Men­schen het­zt, die in der Stre­ich­holzschachtel­welt des deutschen Ras­sis­mus als „anders“ und damit „fremd“ gebrand­markt wer­den, hat jedes Recht auf gle­ich­berechtigte Teil­nahme am gesellschaftlichen Stre­it der Mei­n­un­gen ver­loren. Wenn Nazis und Ras­sis­ten auf die Straße gehen, dann mobil­isieren sie zum näch­sten Pogrom. Dage­gen hil­ft es her­zlich wenig, wenn man sich am anderen Ende der Stadt zu Tausenden ver­sam­melt und gemein­sam gegen Rechts feiert oder betet. Wo Nazis auftreten – egal ob als angemeldete Demon­stra­tion, in der Schulk­lasse oder der Eck­kneipe – muss man sie mit den notwendi­gen Mit­teln an ihrem Treiben hin­dern, auch wenn das manch­mal bedeutet, sich über beste­hende Verord­nun­gen und Geset­ze hin­wegzuset­zen. Das geht gemein­sam natür­lich bess­er als alleine, sowohl die Agi­ta­tion gegen Nazis als auch die Abwehr darauf fol­gen­der staatlich­er Repression.

Deswe­gen: organ­isiert den antifaschis­tis­chen Selb­stschutz und schließt euch zusam­men! Ver­lasst euch nicht auf die Polizei und andere staatliche Akteur_innen! Hin­dert diejeni­gen, die das Pogrom vor­bere­it­en, daran, es auszuführen – mit allen notwendi­gen Mitteln!